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Chronische Schmerzen sind komplex

Aktualisiert: 23. Nov. 2020

Teil 2


Schmerz entsteht immer erst und nur im Gehirn, denn er ist abhängig davon, für wie gefährlich er vom Gehirn eingeschätzt wird. Jede Information mit Gefahrenqualität ist potentiell schmerzverstärkend, jede Information, die Sicherheit bedeutet, potentiell schmerzlindernd.

Schmerz ist ein wichtiges Schutzsystem, wie das Beispiel im letzten Blogbeitrag über die Frau, die keinen Schmerz empfand, eindrücklich zeigte. Schaden ist nicht notwendig noch ausreichend für die Empfindung von Schmerz, genausowenig wie die sog. Nozizeption ausreichend oder notwendig für die Schmerzempfindung ist.


Begriffserklärung Nozizeption: Der Begriff beschreibt die nervale Reizleitung, die den Ort, die Intensität und die Qualität einer Gewebeschädigung anzeigt. Beim akuten Schmerz steht der nozizeptive Anteil im Vordergrund, während beim chronischen Schmerz dieser sensorische Anteil zurücktritt zugunsten eines Anteils, welcher mehr durch Erfahrung (biografisch), Emotionen, Kognitionen (Gedanken) erklärt werden kann. Das kann auf der Verhaltensebene zum Beispiel zu einem nicht hilfreichen Schonverhalten und sozialem Rückzug führen. (Aigner, Schmerznachrichten Nr. 3 2017)

Beim chronischen Schmerz sind wir „overprotected“ (also „überbehütet“) und nicht „übermäßig beschädigt“. („Explain Pain“ – Ansatz, Moseley et al. 2013)

Dies hat mit Lernprozessen auf unterschiedlichen Ebenen zu tun.

1. Einerseits mit Erfahrungen und Erinnerungen mit Schmerz. Hier spielt die eigene Biografie eine Rolle.

2. Dann spielen implizite Lernprozesse eine Rolle. Im akuten Schmerz erfolgt ein Vermeidungsverhalten, dadurch wird Angst und Spannung reduziert und ein gesundes Verhalten verlernt. Es ist möglich, dass durch Gedanken oder äußere Einflüsse ein Katastrophisieren oder auch ein Bagatellisieren des Schmerzes geschieht.

=> Ein Beispiel: Ein Mensch mit bereits lang bestehenden Schmerzen und der Angst sich mit Bewegung zu schaden, wird diese meiden. Durch dieses Schonverhalten wird eine muskuläre Insuffizienz aufgebaut und der Schmerz dadurch größer. Man kann sich aber auch umgekehrt in einen Teufelskreis bewegen, indem man den Schmerz bagatellisiert und sich beispielsweise weiterhin überfordert und damit in eine muskuläre Überaktivität kommt, die zu erhöhter Muskelanspannung und damit zu mehr Schmerz führt.

3. Sensibilisierung auf mehreren Ebenen:

Es reichen schon kleine Reize aus, um Schmerz zu verursachen. Es werden einerseits vermehrt Sensoren (= Nozizeptoren) gebildet, andererseits kommt es auf Rückenmarksebene zu einer Verstärkung der Übertragung und in der Großhirnrinde zu einer veränderten Repräsentation verschiedener Körperregionen.


Butler & Moseley 2016 Homunculus

In der Neuroanatomie versteht man unter Homunculus die Repräsentation der Körperteile in der Großhirnrinde. Bei Personen mit chronischem Schmerz kommt es zu einer Verzerrung, Verwischung oder Verschiebung der Repräsentationen. Dabei verschiebt sich die Spiegelung (Repräsentation in der Großhirnrinde) in benachbarte Areale. Wand et al. (2010) beobachteten zum Beispiel, dass es dadurch zu niedrigeren Schmerzschwellen nicht nur im Rücken, sondern auch am Daumen kam, weiters zu geringerer Wahrnehmungsschärfe am Rücken und einer verzerrten Körperwahrnehmung, um nur ein paar Ergebnisse der Untersuchung zu nennen.

Jedes Schmerzerleben ist bei jedem Menschen bei jedem Schmerzerlebnis unterschiedlich, denn Schmerz ist ein lebenslanger bio-psycho-sozialer Lernprozess. Das heißt auch, dass Gelerntes wieder verlernt werden kann. Es ist möglich das Gehirn und das Nervensystem umzutrainieren.

Was beeinflusst das Nervensystem?

Um das individuell herauszufinden, ist es zu Beginn der psychologischen Schmerzbehandlung hilfreich ein Tagebuch über die Schmerzen und die schmerzfreien Phasen zu führen. Man kann damit selbst untersuchen, wann Schmerz besonders heftig auftritt, welche Gedanken, Emotionen, Situationen dem Schmerz beispielsweise vorausgehen, besonders auch, ob man Stress hatte. Als Ergänzung dazu kann man im Sinne der Positiven Psychologie schauen, wann der Schmerz aus der Wahrnehmung verschwindet. Vielleicht ist man dann mit lieben Menschen zusammen und hat Spaß, vielleicht gönnt man sich eine sinnliche Erfahrung, vielleicht geht man gerade in einer sehr interessanten Tätigkeit auf und vergisst dabei Raum, Zeit und Schmerz?

Schmerz entsteht, wenn das Gehirn zu dem Schluss kommt, dass es mehr Zeichen für Gefahr gibt, als es Zeichen für Sicherheit gibt. (Moseley & Butler, 2013)

Unser Gehirn sitzt nicht passiv herum und „liest“ die Informationen, die vom Gewebe und vom Rückenmark ausgehen. Es schickt Impulse aus, die bereits die eingehenden Informationen verändern.“ (Wall, 1998)

Das Gehirn macht also Tore (oder besser Schleusen) auf oder zu. Es entscheidet welcher Reiz hindurch darf und welcher nicht. Beim langdauernden Schmerzen kann es also zu der zuvor besprochenen „Überbehütung“ kommen und Reize, die früher keine Schmerzen verursacht hätten, führen nun zu ebensolchen.

Welche Schleusen im Sinne von Einflussfaktoren gibt es also?

Bewegung, Ablenkung, Fokus auf den Schmerz, Hilflosigkeit, Genuss/Spaß/positive Stimmung, chronischer Stress, Schock/akuter heftiger Stress, Schonverhalten, das Gefühl mit dem Schmerz umgehen zu können, starres Schmerzkonzept „Mein Rücken ist kaputt.“, differenziertes Schmerzkonzept (hilfreich).

Die Einflussfaktoren können also positiv wie negativ auf die Schmerzwahrnehmung wirken.

In der psychologischen Behandlung wird also darauf geachtet diese Einflussfaktoren zu ergründen und sie im Laufe der Behandlung so zu verändern, dass sie sich auf das Erleben und auf den Umgang mit Schmerz positiv auswirken. (gelernt bei Poesthorst Seminar „Rückenschmerz“ 2020)

Beispiele für hilfreiches Verhalten:

Pausen einplanen, Tempo reduzieren, Aufgaben stückeln, Ansprüche reduzieren, Prioritäten setzen, Ablenkung (wenn Schmerz nicht zu intensiv ist), sich emotional nähren, Belastungsgrenzen akzeptieren, Akzeptanz von Schwierigem, Beziehungen pflegen

Beispiele für schmerzverstärkendes Verhalten:

Sich sozial zurückziehen, perfektionistische Vorgehensweise, unzureichende Pausenplanung, sich auf den Schmerz konzentrieren (=> Außer man nutzt ihn in der Achtsamkeitspraxis als Fokus.), jahrelange Ursachenforschung, Verantwortungsabgabe, Leben pausieren und auf „Schmerzfreiheit“ warten, Behandlungserwartungen wie „Das kenne ich eh schon alles, es wird mir nicht helfen.“, Stöhnen, Seufzen, Humpeln (exzessives Schmerzverhalten => Das ist übrigens oftmals nicht bewusst. – Befragen Sie dazu einmal Menschen aus ihrem Nahfeld.)

Das sind nur Beispiele des Umganges mit Schmerz auf der Verhaltensebene, die möglicherweise eine kleine Anregung bieten. Es ist erstmal hilfreich zu bemerken, dass man selbst etwas tun kann. Man fühlt sich dann weniger hilflos, sondern im Gegenteil steigert man damit die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Jede/r Mensch hat eine individuelle Vorgeschichte, die berücksichtigt werden muss. Auch Entwicklungstraumen können sich im Schmerzerleben niederschlagen. Weiters kann die Frage hilfreich sein, wie in der Herkunftsfamilie mit Schmerz und/oder Krankheit umgegangen wurde. Hier geht es darum Muster zu erkennen, die möglicherweise im Jetzt noch wirken, obwohl sie keine gesunde Strategie mehr darstellen.


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